Das Campus-Projekt beim Beethovenfest Bonn kreiert eine musikalische Zukunftsvision, indem es junge Menschen zusammenbringt.
In diesem Jahr steht am 8. September eine Begegnung der besonderen Art an: Es kommen geflohene Musikerinnen und Musiker aus Belarus mit Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine und Deutschland zusammen.
"Campus ist eben ein Konzert wie kein anderes", sagt Thomas Scheider, der das Projekt für das Beethovenfest schon zum achten Mal betreut. "Es ist nicht so wie die üblichen Konzerte, wo die meisten Ensembles schon mit einem festen Programm anreisen und diese in einer sehr guten Qualität abliefern. Beim Campus-Projekt muss alles von Anfang an durchdacht werden: Wen lädt man ein, warum, was passt zusammen - oder was passt eben nicht so gut zusammen, dass es dadurch wieder interessant wird."
Etwas Besonderes ist auch der Ort des Konzertes: Campus 2022 ist das erste und einzige Konzert in der Geschichte des Beethovenfestes, das im früheren Plenarsaal des Bundestages, einem Schauplatz der deutschen Nachkriegsdemokratie, stattfindet.
Vitali Alekseenok: "Belarussen und Ukrainer sind Teil Europas, ein Teil des freien Denkens"
Vokalwerke ukrainischer, belarussischer und deutscher Komponistinnen und Komponisten, Lieder der Freiheit, des Protestes, aber auch Friedenshymnen ranken sich um die vier Sätze der Dritten Sinfonie Beethovens, der "Eroica", mit ihrem revolutionären Gestus. "Natürlich ist Beethoven Kunstmusik, aber sie hat etwas so Direktes und etwas fast Affekthaftes, das sofort überspringt aufs Publikum", so Projektleiter Scheider. "Natürlich ist es kein Straßenlied, aber ich finde, es ist trotzdem sehr eingängig für den Zuhörer."
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"Sinn dieses Projektes ist es, eine musikalische Brücke zwischen den Kulturen von Belarus, meiner Heimat, der Ukraine, mit der wir alle mitfühlen, und Deutschland zu bauen", sagt der musikalische Leiter des Projektes, Dirigent Vitali Alekseenok. "Und zwar von der Vergangenheit ins Heute hinein - von den Werken nationaler Dichter und Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts bis zu den Werken zeitgenössischer Komponisten der drei Länder", so Alekseenok weiter. "Wir können mit Kunst, mit Musik schon vieles bewirken. Wir wollen zeigen, dass wir als Belarussen und Ukrainer ein Teil Europas, ein Teil des freien Denkens sind und sein wollen."
Nach seiner aktiven Beteiligung an den Protesten in Minsk im Sommer 2020, worüber er in Deutschland ein Buch veröffentlicht hat ("Die weißen Tage von Minsk"), kann Alekseenok nicht mehr in seine Heimat zurückkehren.
Dieses Schicksal teilt er mit weiteren belarussischen Musikerinnen und Musikern, die am Campus-Projekt beteiligt sind: vor allem den Sängerinnen und Sängern des "Volny Chores" ("Freien Chores"). Mit spontanen Auftritten und Flashmobs im öffentlichen Raum wurde der Chor zum Symbol des friedlichen Protestes in Belarus, und nach der brutalen Unterdrückung der Bewegung durch das Lukaschenko-Regime zur "feindlichen Organisation" erklärt. Die meisten Chormitglieder mussten fliehen. Der "Volny Chor" kommt nach Bonn mit seiner Leiterin Galina Kazimirovskaya, die zurzeit im polnischen Exil lebt.
"Bei der Flucht vor zwei Jahren haben wir alle gehofft, dass wir bald nach Hause zurückkehren können", sagt Kazimirovskaya. "Danach sieht es aber nicht aus, in Belarus drohen uns Verhaftung und mehrjährige Freiheitsstrafen. Aber wir kämpfen weiter, indem wir unsere Lieder weiter singen."
Mitglieder des Volny Chores singen vor einem Altar mit Jesus am Kreuz im Hintergrund maskiert in einer Kirche. Vor ihnen steht die Dirigentin.
Die Ukraine wird beim Campus-Projekt durch den Chor "Sophia Chamber Choir" aus Kiew vertreten sein. "Wir verstehen uns als Botschafter der ukrainischen Kultur", sagt der Chorleiter Olekseii Shamrytskyi der DW. "Am Anfang des Krieges haben wir in Bunkern für verängstigte Menschen gesungen. Jetzt möchten wir unseren Kampfgeist auch nach außen tragen." Für die Beteiligung am Campus-Projekt der DW und des Beethovenfestes erhielten die männlichen Chormitglieder eine Sondergenehmigung, die den wehrpflichtigen Ukrainern eine Ausreise erlaubt.
Drittes Mitglied im Bunde ist der "GewandhausJugendchor" aus Leipzig unter der Leitung von Frank-Steffen Elster. Bereits im Vorfeld des Campus-Projektes haben die drei Chöre gemeinsam in Warschau geprobt. "Wir versuchen, durch das gemeinsame Musizieren den Gedanken an ein freies Leben, an Toleranz und Demokratie musikalisch und künstlerisch auszudrücken", so Elster im DW-Gespräch.
Campus-Programm: Beethoven hält zusammen
Wenn das Projekt schließlich vor Publikum am 8. September in Bonn zum Erklingen kommt, vereinen sich Auftritte des Projektchores (bestehend aus Sängerinnen und Sängern aus drei Ländern) mit den instrumentalen Sätzen der Beethoven-Sinfonie. Gespielt werden verschiedene Fassungen des Werkes in kammermusikalischen Bearbeitungen. Die Bearbeitungen stammen von vier verschiedenen Autorinnen und Autoren aus der Beethoven-Zeit bis heute. Eine davon, die des dritten Satzes, hat der ukrainische Komponist Maxim Kolomiiets beigesteuert. "Es ist natürlich nicht einfach, dem Werk Beethovens etwas hinzuzufügen", gesteht der Komponist.
"Ich habe mir aber die Frage gestellt: Wie hätte Beethoven heute komponiert, in einer Zeit, wo in Russland ein Herrscher an der Macht ist, dem Napoleon nicht mal das Wasser reichen könnte, wo in Europa wieder Krieg herrscht." Gespielt werden die vier Teile der Sinfonie von belarussischen, ukrainischen und deutschen Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, darunter Mitglieder des Bundesjugendorchesters.
Olga Podgayskayage: Werk für inhaftierte Maria Kolesnikowa
Ein zentrales Element des Campus-Programms ist traditionell auch ein Auftragswerk, das die DW an das jeweilige Gastland vergibt. Diesmal übernahm die aus Minsk geflohene Komponistin Olga Podgayskayage die Aufgabe. Es ist ein Werk für Chor und Orchester mit dem Titel "Nebo Maryi" ("Marias Himmel").
Das Werk ist der Musikerin und Oppositionellen Maria Kolesnikowa gewidmet, die die Komponistin aus der gemeinsamen Studienzeit am Minsker Konservatorium gut persönlich kennt. Kolesnikowa machte sich als Flötistin, Sängerin und Projektmacherin in der Musikszene einen Namen, ehe sie sich der politischen Bewegung anschloss, die eine demokratische Umgestaltung von Belarus anstrebte. Seit zwei Jahren befindet sich Kolesnikowa in einer vom Lukaschenko-Regime verhängten elfjährigen Haft.
"Wenn man daran denkt, wo sich Maria jetzt befindet und wie ihre Situation ist, kann man nur weinen", sagt die in Warschau lebende Podgayskayage. "Denn das Böse wirkt lähmend, friert jeden kreativen Impuls ein. Aber genau das darf nicht passieren. Um zu überleben, müssen wir stark sein und uns gegenseitig unterstützen."
Kolesnikowas Schwester Tatiana Khomich, die bereits den Proben des Campus-Chores in Warschau beiwohnte, bedankte sich bei allen Beteiligten: "Sie weiß von dem Projekt und dem ihr gewidmeten Werk und das berührt sie sehr." "Es ist nicht erlaubt, in der Lagerhaft zu musizieren oder sogar Musik zu hören. Wir haben vor einiger Zeit versucht, Maria eine Flöte ins Gefängnis zu übergeben und sind damit natürlich gescheitert. Aber ihren Himmel ("Marias Himmel" lautet der Titel des ihr gewidmeten Werkes, Anm. d. Red.) - den sieht sie auch hinter Gittern."
Autorin Anastassia Boutsko
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