Das ukrainische Kulturerbe soll digital gesichert werden

23 Mär

Die vierte Woche in Folge fallen russische Bomben auf die Ukraine, zerstören Wohnhäuser, Krankenhäuser, töten Menschen.

Auch das kulturelle Erbe des Landes bleibt vor der Militäroperation der russischen Armee nicht verschont - wichtige Kultureinrichtungen wurden zerstört, darunter das Theater der Stadt Mariupol und das Höhlenkloster Swjatohirsk in der Region Donezk. Es ist das älteste Kloster des Landes, seine erste schriftliche Erwähnung geht auf das Jahr 1526 zurück.

Während Menschen in der Ukraine ihre Kulturschätze mit Sandsäcken schützen und Gemälde in Bunkern verstauen, versuchen nun die Freiwilligen der Organisation "Saving Ukrainian Cultural Heritage Online" aus der Ferne das kulturelle Erbe zu bewahren. Einer der Initiatoren sitzt in Wien und heißt Sebastian Majstorović.

Verlust jahrhundertealter Kulturschätze

"Anscheinend habe ich ein Bewusstsein für diese Fragilität der Kultur. Durch meinen Hintergrund habe ich sozusagen Antennen dafür entwickelt", sagt Sebastian Majstorović. Als Schüler erlebte er als Augenzeuge den Einsturz des Stadtarchivs in Köln im Jahr 2009. Unzählige Dokumente wurden damals zerstört, darunter wertvolle Urkunden, mittelalterliche Handschriften und historische Fotos.

"Unsere Schule grenzte an den Hinterhof des Stadtarchivs. Und zufällig war ich in dem Klassenraum, der auch auf das Archivgebäude blickte. Weil ich damals schon Apps programmiert hatte, konnte ich mit meinem iPhone ein Video machen. Vor meinen Augen ist das Archiv eingestürzt, wir haben gesehen, wie die Menschen aus den Trümmern der angrenzenden Wohngebiete gerettet wurden. Das alles war sehr eindringlich", erzählt Sebastian Majstorović.

Am 3. März 2009 stürzte das Historische Archiv in Köln ein. Beim gleichzeitigen Einsturz zweier benachbarter Gebäude starben zwei Menschen

Zerstörung der bosnischen Nationalbibliothek

Der Einsturz das war nicht das einzige Ereignis, das ihm die Zerbrechlichkeit von Kulturschätzen vor Augen geführt hat. Majstorovićs Vater kommt aus Bosnien und Herzegowina. 1992 beschossen bosnische Serben die Vijećnica, die Nationalbibliothek, in Sarajevo und setzen sie so in Brand. Das prachtvolle Gebäude im Zentrum Sarajevos hatte eigentlich keine militärische Bedeutung und trotzdem wurde es zur Zielscheibe. Über 80 Prozent des Bestands wurden zerstört. Etwa drei Millionen Bücher und zahlreiche alte Dokumente aus der multiethnischen Geschichte des Landes gingen in Flammen auf.

Majstorovićs Vater, der noch vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet ist, hat ihm später von diesem tragischen Verlust des nationalen Erbes erzählt. "Die Nationalbibliothek war ein Schatz, dort lagerten Schriften über das multiethnische, kosmopolitische Bosnien mit seinem Reichtum an Kulturen. Für Historiker ist es nun schwierig, Dokumente zum Beispiel über die jüdische Gemeinschaft in Sarajevo zu finden. Das sind alles Sachen, die dort verloren gegangen sind. Auch wenn ich das nicht persönlich erlebt habe, hat sich das doch sehr stark in meinem Kopf eingeprägt. Wenn es damals das Ziel gewesen sein sollte, die bosnische Identität durch die Zerstörung kultureller Institutionen auszulöschen, dann sehen wir heute in der Ukraine ein ganz ähnliches Muster."

Heute arbeitet Sebastian Majstorović am Austrian Center for Digital Humanities and Cultural Heritage in Wien und gründete mit zwei Gleichgesinnten vor drei Wochen die Organisation "Saving Ukrainian Cultural Heritage Online" (SUCHO).

Die Kultur digital bewahren

"Wir haben uns am Anfang darauf fokussiert, alles, was öffentlich im Internet ist, zu sichern. Wir nutzen ein spezielles Programm, das Webseiten von Kultureinrichtungen und Archiven automatisch nach Links durchsucht und Informationen wie Dokumente, Fotografien von Kunstwerken, virtuelle Touren von rekonstruierten historischen Monumenten, Filme, Volksmusik-Produktionen oder Schnittmuster von Trachten etc. runterlädt", so Majstorović. Diese vollautomatische Variante funktioniere aber nicht immer. Dann helfen laut Majstorović Freiwillige, die sich darum kümmern, die Daten manuell runterzuladen. Und in einigen Fällen müssten sogar Programmierer spezielle Anwendungen schreiben, um die Informationen speichern zu können.

Nach drei Wochen hat die SUCHO bereits zehn Terabyte an Daten gesichert. Zu Beginn hat Majstorović die Serverkosten selber übernommen, doch sie wuchsen ihm schnell über den Kopf. Inzwischen kriegt die SUCHO Unterstützung von Tech-Konzernen und Internet-Providern, die die Server kostenlos zur Verfügung stellen.

Digitalisierung von Kulturgütern - eine Priorität in vielen Ländern

Das Problem sei nicht das Digitalisieren von Kulturschätzen, sagt Majstorović. "Kulturinstitutionen, auch in ärmeren Ländern, sind derzeit sehr gut dabei, das Kulturerbe zu digitalisieren. Worüber allerdings nicht so viel nachgedacht wurde, ist die Datensicherung. Und das ist etwas, was mich besorgt." Man müsse international zusammenarbeiten, um eine digitale Infrastruktur zu schaffen, in der selbst kleine regionale Museen mit wenig Aufwand und kostenlos ihre Daten sichern könnten. "Das ist etwas, was jetzt geschaffen werden muss."

Mit der Organisation "Saving Ukrainian Cultural Heritage Online”, in Zusammenarbeit mit dem Harvard Ukrainian Research Institute und der University of Alberta, versuchen die Freiwilligen, genau diese Infrastruktur aufzubauen, um das Kulturerbe vor Krieg oder Naturkatastrophen für zukünftige Generationen zu bewahren.

Wie sehr bereits Zerstörtes die Arbeit von Historikern und Historikerinnen erschwert, weiß Sebastian Majstorović nur zu gut. Für seine Doktorarbeit über revolutionäre Handwerkergesellen im 19. Jahrhundert fehlen viele wertvolle Dokumente: "Die Hauptarchive für meine Forschung befinden sich in Wien und in Mailand. Doch das Archiv in Mailand wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen bombardiert, und die Akten in Wien befanden sich im Justizpalast, der in den 1920ern im Zuge von Ausschreitungen angezündet wurde", erzählt Majstorović. Auch andere Kollegen und Kolleginnen seien mit ähnlichen Problemen konfrontiert. "Deswegen sind digitale Sicherungskopien so wichtig."

Schutz von Kulturgütern auch auf staatlicher Ebene

Eigentlich ist jedes Kulturgut ein ziviles Objekt, das durch die allgemeinen Regeln der Kriegsführung geschützt ist. Zudem hat die internationale Gemeinschaft, darunter auch Russland, 1954 die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgütern in Kriegszeiten verabschiedet. Doch daran scheint sich die russische Seite im jetzigen Krieg in der Ukraine nicht zu halten.

Auch Politikerinnen und Politiker versuchen, zum Schutz von Kulturschätzen beizutragen. So hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, zusammen mit dem Auswärtigen Amt das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine ins Leben gerufen.

"Der grausame russische Militätoperation in der Ukraine verursacht unvorstellbares Leid für die Menschen dort, die getötet werden, verletzt werden, in Kellern hungern und frieren, alles hinter sich lassen und fliehen müssen. Das Beenden dieser Invasion des Kremls sowie die humanitäre Hilfe müssen daher im Augenblick im Vordergrund stehen. Unsere Sorge gilt jetzt zudem auch den ukrainischen Kulturschätzen, die akut von Zerstörung bedroht sind, und mit ihnen das kulturelle Erbe Europas. Es gibt bereits jetzt eine Vielzahl von Kontakten und Aktivitäten auf allen Ebenen, um die bedrohten Kulturgüter in der Ukraine zu schützen", sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth.

Katja Keul, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, erklärte zudem: Gleichzeitig bedroht die Militätoperation - gezielt und gewollt - die kulturelle Identität der Ukraine, ihr kulturelles Erbe und ihre Kunstschätze. Wir werden den Menschen in der Ukraine mit allen unseren Kräften helfen, ihre Kultur zu bewahren und zu verteidigen." Das ukrainische Kulturministerium sammelt Beweise von Augenzeugen zu zerstörten Kulturstätten. Die Liste zählt derzeit (Stand 22. März) 80 Angriffe auf kulturelle Einrichtungen. Und es werden täglich mehr.

Autorin Rayna Breuer

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