Für Glamour sorgen und trotzdem politisch sein, das war immer schon der Anspruch des wichtigsten europäischen Filmfestivals in Cannes. Doch in Zeiten eines Militärkonfliktes in Europa sorgt der Zusammenhang für Konfliktpotential.
Der künstlerische Leiter Thierry Frémaux hatte schon früh angekündigt, bei der 75. Jubiläumsausgabe keine offiziellen russischen Delegationen empfangen zu wollen. Russische Filmemacher ins Programm zu nehmen, hatte sich Frémaux allerdings vorbehalten.
Der russische Filmemacher Kirill Serebrennikov ist nun mit seinem Film "Tschaikowskis Frau" zum Wettbewerb eingeladen worden. Er habe keine staatliche russische Förderung erhalten, argumentierte Frémaux. Serebrennikov ist zum dritten Mal in Cannes. Der Russe, der in seinem Heimatland zwei Jahre lang unter Hausarrest stand, lebt mittlerweile in Deutschland. Der Film erzählt eine biografische Episode aus dem Leben des weltberühmten russischen Komponisten Peter Tschaikowski, der aus Angst, sich als homosexuell zu outen, eine in ihn verliebte junge Frau heiratete - und sie mit in eine Tragödie riss.
Cronenberg, die Brüder Dardenne, Östlund - die Ausgezeichneten kehren zurück nach Cannes
Im Wettbewerb der 75. Filmfestspiele konkurriert "Tschaikowskis Frau" mit 20 weiteren Filmen, nur vier davon unter der Regie von Frauen. Sie sehe noch keine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Minderheiten in der Filmindustrie, sagte die Schauspielerin und Regisseurin Rebecca Hall, die in diesem Jahr als Mitglied der Jury über die Vergabe der Goldenen Palme mitentscheidet.
"Ich glaube, wir haben Fortschritte gemacht, aber es ist noch nicht geschafft", sagte Hall. Ihr Jury-Kollege Jeff Nichols rechnete damit, dass Themen wie die Perspektive von Minderheiten in den Diskussionen der Jury eine Rolle spielen könnten.
Ins Rennen gehen einige Wiedergänger, die bereits eine Goldene Palme im Trophäenschrank haben: Der kanadische Altmeister David Cronenberg etwa gibt mit "Crimes of the Future" sein mit Spannung erwartetes Comeback.
In den Hauptrollen sind Léa Seydoux, Viggo Mortensen und Kristen Stewart zu sehen. Der Science-Fiction-Horrorfilm "Crimes of the Future" spielt in einer zukünftigen Welt, in der die biologische Beschaffenheit der Menschen durch fortschrittliche Technologien verändert werden kann.
Weitere frühere Preisträger sind das belgische Bruderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne, der schwedische Regisseur Ruben Östlund, der Japaner Hirokazu Kore-Eda, der 2018 die Goldenen Palme für "Shoplifters" bekam, und der Rumäne Cristian Mungiu. Auch der südkoreanische Regisseur Park Chan-wook wurde schon zweimal in Cannes mit dem Preis der Jury geehrt. Sein im Wettbewerb laufendes Werk heißt "Decision to Leave" und ist ein Mysterythriller.
Mit Starbesetzung kann "Armageddon Time" aufwarten: Der Film des US-Amerikaners James Grey spielt in der Wahlperiode von Ronald Reagan, in der auch die Familie Trump ihre Finger im Spiel hat. Anne Hathaway und Anthony Hopkins spielen die Hauptrollen. Der Regisseur wurde bereits fünf Mal nach Cannes eingeladen, ging aber im Wettbewerb bisher stets leer aus.
Grusel und Glamour in Cannes
Es gibt allerlei Gruseliges zu sehen dieses Jahr: Bereits der (außer Konkurrenz laufende) Eröffnungsfilm "Coupez!" von "The Artist"-Regisseur Michel Hazanavicius ist eine Zombie-Komödie. "Schnitt!" heißt der Titel übersetzt, ein Wortspiel mit Filmhandwerk und Vampirismus. Eigentlich sollte der Film "Z (comme Z)" heißen. Da dieser Name allerdings an das von Russland im Ukraine-Krieg verwendete Z-Symbol erinnert, wurde der Film umbenannt.
Unheimlich wird es auch beim Thriller "Holy Spider", dem Wettbewerbsbeitrag des iranischen Regisseurs Ali Abbasi: Ein als "Spinnenmörder" bezeichneter Mann treibt in der heiligen iranischen Stadt Maschhad sein Unwesen, er selbst sieht seine Morde an Straßenprostituierten als göttliche Mission.
Für den Glamour sorgen einige Premierenfilme, die außer Konkurrenz laufen, allen voran die Fortsetzung des Action-Films "Top Gun", eines Kultfilms aus dem Jahr 1986. Tom Cruise spielt - auch 36 Jahre später - die Hauptrolle und wird an der Côte d'Azur erwartet. Ebenfalls außer Konkurrenz läuft der Film "Elvis" des australischen Regisseurs Baz Luhrmann. Die Vorfreude auf das Biopic des Kings of Rock'n'Roll ist groß. Darin mimt US-Schauspieler Austin Butler den jungen Elvis, sein ebenfalls legendärer Manager wird dargestellt von Tom Hanks.
Europa und seine Migrationsgeschichte
Man kommt nicht umhin, festzustellen: Mit genau null Wettbewerbsbeiträgen ist der afrikanische Kontinent nicht repräsentiert. Immerhin widmen sich einige Regisseure Themen rund um Kolonialismus, Migration und Rassismus. Die belgischen Dardenne-Brüder zeigen mit "Tori und Lokita" ein Drama um zwei junge Migranten vom afrikanischen Kontinent. Die Hauptrollen übernahmen Joely Mbundu und Pablo Schils.
Die französische Regisseurin Lèonor Serraille erzählt in "Mother and Son" die Geschichte von Rose und ihren beiden Söhnen Ernest und Jean, die 1986 von der Elfenbeinküste nach Paris emigrieren. Der Film folgt der Familie bis ins Jahr 2010. Er zeigt, wie sie zusammenwächst, aber auch droht, auseinanderzubrechen. Das Werk des katalanischen Videokünstlers Albert Serra "Pacification - Tourment sur les iles" spielt in Französisch-Polynesien und nimmt die Konflikte zwischen französischem Etablissement und lokaler Bevölkerung in den Fokus.
Aufschlussreich für das Verständnis von Rassismus könnte der Wettbewerbsbeitrag von Christian Mungiu sein: Sein Drama "RMN" entfaltet sich in einer Dorfgemeinschaft in Siebenbürgen. Nach dem Zuzug ausländischer Fabrikarbeiter wird sie von rassistischen Vorurteilen eingenommen. Eine verstörende Mélange aus Ängsten, Frustrationen, Konflikten und Leidenschaften brechen sich Bahn.
Ukrainische Filme und Russland-Boykott
Anfang März hatten die Filmfestspiele verkündet, russische Delegationen von der Teilnahme auszuschließen, solange der Angriff Russlands nicht unter Bedingungen eingestellt werde, die das ukrainische Volk zufrieden stellten. Und tatsächlich sind in diesem Jahr keine offiziellen russischen Vertreter, keine russischen Filmschaffenden und auch keine russischen Filmkritiker oder Journalisten eingeladen worden. Dass der in Deutschland lebende Kirill Serebrennikov jetzt im Wettbewerb vertreten ist, weicht diese harte Position nur unmerklich auf.
Zum Opfer fiel ihr etwa der berühmteste russische Filmkritiker, der aus Lwiw stammende Andrej Plakhov. Er reagierte allerdings souverän: "Vielleicht müssen wir tatsächlich begreifen, was es ist, Bürger eines Aggressor-Landes zu sein", schrieb er in einem öffentlichen Statement auf seiner Facebook-Seite.
Die "Null Toleranz"-Politik gegenüber allem Russischen teilen allerdings nicht alle in der Ukraine: So äußerte sich etwa Sergei Loznitsa, der wohl renommierteste Filmemacher der Ukraine, noch im März gegen den pauschalen Boykott russischer Filme: "Das, was sich abspielt, ist schrecklich", sagte er in einem Interview für die Branchenzeitschrift Variety. "Aber ich appelliere an alle, nicht in einen Wahnsinn zu verfallen. Wir müssen über die Menschen nicht nach ihren Pässen urteilen, sondern nach ihren Handlungen." Diese Position bescherte Loznitsa einen Ausschluss aus der 2017 gegründeten nationalen Filmakademie der Ukraine. In Cannes läuft sein Film "The Natural History of Destruction" als Special-Screening außerhalb des Wettbewerbs.
Filmen an der Front
Auch der Film "Mariupolis 2" von Mantas Kvedaravičius wird in Cannes zu sehen sein. Der litauische Regisseur war im April in Mariupol von der russischen Armee ermordet worden. Seine Verlobte Hanna Bilobrova, die mit ihm vor Ort war, konnte das bereits gedrehte Material sichern. Zusammen mit Mantas Kvedaravičius' Cutterin Dounia Sichov entstand so ein erschütterndes hochaktuelles Zeitzeugnis. Es sei absolut unverzichtbar, "Mariupolis 2" in Cannes zu präsentieren, teilte das Festival mit. Deshalb sei der Film dem Programm nachträglich hinzugefügt worden. Seine Premiere ist am 19. Mai.
In einem der Nebenprogramme des Festivals, "Un Certain Regard" ("Ein besonderer Blick"), sorgt ein weiterer Film für Aufmerksamkeit: "Schmetterlingsvisionen" des jungen ukrainischen Regisseurs Maksim Nakonechnyi. Der noch vor dem Krieg fertiggestellte Film erzählt eine "harte surrealistische Geschichte einer Kämpferin, der Pilotin Lilja, die nach der Erfahrung der Gefangenschaft verzweifelt versucht, in ihr normales Leben zurückzukehren", so der Regisseur. "Leider war mein Film wohl eine Vorahnung des Krieges", so Maksim Nakonechnyi. Seit Beginn der russischen Invasion ist er nun an der Front - mit Waffe und Kamera. "Daraus soll ein Dokumentarfilm entstehen", sagt er.
Autorin: Julia Hitz, Anastassia Boutsko
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