Gehen oder bleiben? Afrikanische Künstler am Scheideweg

21 Jun

Gehen oder bleiben? Lange Zeit hat sich die südsudanesische Schriftstellerin Stella Gaitano diese Frage gestellt. 

 

Irgendwann hat sie es nicht mehr ausgehalten - die Drohanrufe, die Anfeindungen, die ständig lauernde Furcht vor einer Verhaftung. Als selbst ihre drei Kinder sie baten, lieber nicht nach Hause zu kommen und sich zu verstecken, stand ihr Entschluss fest: Sie musste ihr Heimatland ver- und ihre Kinder im Sudan zurücklassen.

"Es war so hart, alles aufzugeben", erzählt Gaitano im Interview mit der DW. "Ich vermisse alles! Vor allem die Menschen. Aber ich war dort nicht mehr sicher." Gaitano stammt aus einer der konfliktsreichsten Regionen dieser Welt. Seit der Unabhängigkeit der Republik Sudan im Jahr 1956 beherrschen gewaltvolle Kämpfe zwischen Regierung und Rebellen, zwischen religiösen und ethnischen Gruppen den Alltag der Menschen. Millionen sind auf der Flucht. 

Der Südsudan ist der jüngste Staat Afrikas

Auch Stella Gaitano zog es zwischenzeitlich weg aus dem islamisch-arabisch geprägten Norden in den Süden des Landes, wo sie sich mehr Freiheit erhoffte. Doch als der Süden nach jahrelangen Kämpfen 2011 die Unabhängigkeit erreichte, währte die Freude nur kurz. Von 2013 bis 2018 herrschte Bürgerkrieg und auch nach Kriegsende werden der Regierung immer wieder Menschenrechtsverletzungen, Zensur und Korruption vorgeworfen. Heute gilt der Staat als gescheitert. 

2015 zog Gaitano mit ihrer Familie zurück in die sudanesische Hauptstadt Khartum. Ihre eigenen Erlebnisse fließen in ihre Texte ein: "In den meisten meiner Geschichten geht es darum, die Situation von Menschen zu beleuchten, die vom Krieg betroffen sind, und wie sich Krieg und Korruption auf die Menschen auswirkt (...), alle meine Figuren sind Opfer unserer Führung", so Gaitano. Aber nicht nur mit ihren Texten kämpft die gelernte Pharmazeutin für Freiheit und Demokratie - auch als Aktivistin lehnt sie sich seit Jahren gegen die repressiven Regimes im Sudan und Südsudan auf, beteiligte sich an Protesten und rief Initiativen ins Leben, um die Menschen in Krisensituationen mit Lebensmitteln, aber auch mit Büchern zu versorgen. Denn Stella Gaitano ist überzeugt: Wer die richtigen Worte hat, um sich zu verteidigen, braucht keine Waffen. 

Ihr Engagement hat sie zur Zielscheibe werden lassen. Mithilfe der Schriftstellervereinigung PEN gelingt Stella Gaitano Anfang März 2022 die Flucht nach Kamen, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Sie selbst ist nun in Sicherheit, aber aufatmen kann sie erst, wenn sie ihre drei Söhne wieder in die Arme schließen kann. Derzeit läuft der Visa-Prozess für die Teenager. 

Leben zwischen zwei Welten

Gaitano hatte keine Wahl: Sie musste ihr Land verlassen. Angèle Etoundi Essamba hingegen spricht vom selbstgewählten Exil. Die kamerunische Fotografin kam als Kind mit ihren Eltern nach Frankreich und studierte später in den Niederlanden, wo sie noch heute lebt. Bis sie 20 Jahre alt war, kam es ihr nicht in den Sinn, nach Afrika zurückzugehen, aber dann sei ihr klar geworden, dass sie zurückkehren müsse, so Essamba gegenüber der DW. "Meine Hauptinspiration kommt von meinem afrikanischen Erbe. Aber wenn ich in Afrika bin, vermisse ich Amsterdam, und andersherum." Essamba lebt seit Jahren erfolgreich zwischen zwei Welten. Ihre Arbeiten, die sich vor allem mit der Rolle und der Identität von Frauen in Afrika beschäftigen, sind derzeit Teil des kamerunischen Ausstellungspavillons der Biennale in Venedig und werden ab diesem Jahr auch in die ständige Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) aufgenommen. 

Essamba und Gaitano werden Teil der Diskussionsrunde "Creatives from Africa: Should I stay or should I go?" sein, zu der die DW-Abteilung Culture and Documentaries anlässlich des jährlich stattfindenden Global Media Forums am 21. Juni einlädt. Gemeinsam mit Musiker und Oppositionspolitiker Bobi Wine aus Uganda, dem ghanaischen Fotografen Akinbode Akinbiyi und dem nigerianischen Filmemacher Ike Nnaebue diskutieren sie über Chancen und Herausforderungen für Kreative auf dem afrikanischen Kontinent. Ob mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten, schlechte Infrastruktur, fortwährende Konflikte oder Zensur - es gibt viele Faktoren, die Künstler und Künstlerinnen in ihrem Schaffen ausbremsen können. Vielfach müssen sie eine schwere Entscheidung treffen: gehen oder bleiben?

Flucht ohne Wiederkehr?

Vor 27 Jahren versuchte Ike Nnaebue von Nigeria aus nach Marokko zu kommen, um von dort ein Boot nach Europa zu besteigen. Doch er kam nur bis Gambia, an der westafrikanischen Küste. Was er dort aus erster Hand von Rückkehrern über die Gefahren - Entführungen, Folter, Menschenhandel - hörte, stimmte ihn um. Jahre später trat er die gleiche Reise noch einmal an. Dieses Mal gemeinsam mit einem Filmteam. In "No U-Turn" (dt. "Lagos - Tanger: Reise ohne Rückfahrschein") lässt er Migranten und Migrantinnen zu Wort kommen: "Ich wollte die Gründe hören, warum sich jemand im Jahr 2021 trotz aller Informationen über die Gefahren auf der Straße auf diese Art von Reise begeben will. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa tauchte immer wieder als Antwort auf, aber ich wollte besser verstehen, welche Art von Hoffnung die Angst vor der Gefahr überwindet."

Ziel. Manchmal werden die Menschen einfach in der Wüste ausgesetzt und verdursten.

Vor allem in Westafrika sei die Migration mit vielen Stigmatisierungen verbunden: "Wenn man geht, geht man nicht nur für sich selbst. Es wird erwartet, dass man mit einem gewissen Maß an Erfolg zurückkommt, den die Gesellschaft auch als solchen anerkennen kann. Wenn das nicht der Fall ist, hat man versagt und die Zeit anderer verschwendet." Nnaebue ist mittlerweile ein erfolgreicher Filmemacher - nicht nur in Nigeria, wo er in der dortigen Filmindustrie Nollywood berühmt wurde, sondern auch in Europa, wo sein Dokumentarfilm bei der Berlinale 2022 Premiere feierte.

Für viele junge Afrikaner ist Nnaebue ein Vorbild, denn er zeigt, dass man auch in Afrika Erfolg haben kann. Und das ist in der von westlichen Stereotypen und Erfolgsgeschichten dominierten Welt ein wichtiger Faktor. Auch Robert Kyagulanyi Ssentamu, besser bekannt unter seinem Bühnennamen Bobi Wine, ist in seinem Heimatland Uganda eine wichtige Identifikationsperson für die junge Generation, die rund 80 Prozent der Bevölkerung ausmacht. 

Bobi Wine: Oppositionspolitiker und Musiker

Seit 2017 ist Wine zudem aktiv in der Politik und stellt sich gegen Präsident Yoweri Museveni und seine Regierung, die unliebsame Gegner verhaften, foltern oder verschwinden lässt. Auch Wine wurde in der Vergangenheit mehrfach brutal angegriffen und zwischenzeitlich inhaftiert. Trotz aller Einschüchterungsversuche kandidierte er 2021 für die Präsidentschaftswahl. Unter den Einschränkungen durch Corona wurde sein Wahlkampf zu einer Treibjagd mit Festnahmen, Beschuss und Gewalt. Trotz des Vorwurfs der Wahlmanipulation wurde Yoweri Moseveni, der das Land mittlerweile seit über 35 Jahren regiert, letzten Endes wieder im Amt bestätigt. 

Nichtsdestotrotz macht Wine weiterhin Politik. Die Musik hat er während der gesamten Zeit aber nie aufgegeben: "Es ist die Kunst, die es in Afrika immer gewagt hat, das Beste in uns zum Vorschein zu bringen, trotz der Erstickung durch Diktaturen und Machthaber", so Wine 2020 im Interview mit dem Guardian. Der 1982 geborene Künstler ist überzeugt, dass die Kreativwirtschaft den Wandel und eine positive Entwicklung in Uganda, aber auch in ganz Afrika voranbringen kann. 

Dass man diesen Wandel auch aus dem Exil mitgestalten kann, zeigt der britisch-nigerianische Fotograf Akinbode Akinbiyi. Er selbst bezeichnet sich als "Wanderer zwischen den Welten". Regelmäßig reist der Wahlberliner nach Afrika und dokumentiert beispielsweise die rasanten Entwicklungen afrikanischer Metropolen wie Lagos. Regelmäßig gibt der 1946 geborene Autodidakt auch Schulungen für den Nachwuchs. International zählt er mittlerweile zu den bekanntesten künstlerischen Fotografen. 

Fünf Panelisten, fünf verschiedene Lebensläufe, fünf verschiedene Perspektiven - während der DW-Diskussionsrunde, moderiert durch Karin Helmstaedt, werden die Gäste am 21. Juni über Chancen und Hürden für Afrikas Kreativszene diskutieren. Ein Zusammenschnitt der Sendung wird am 25. Juni bei unserem “Magazin Kultur.21” ausgestrahlt.  

 

Autorin Annabelle Steffes-Halmer

Permalink - https://p.dw.com/p/4CeeJ


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