Perspektivwechsel: Kunst aus Afrika auf der documenta

19 Jun

Und hatte noch nie einen so prominenten Auftritt in Kassel wie 2022.

 

Die bunte Hütte ist ein echter Blickfang auf der grünen Wiese der Karlsaue, die gleich hinter Kassels Schloss beginnt und Teil einer idyllischen Parklandschaft ist. "The Nest Collective" - ein Kollektiv aus Nairobi mit fünf ständigen und zahlreichen temporären Aktivisten aus den Bereichen Wissenschaft, Film und Kunst hat sie selbstbewusst "Return to Sender" getauft: Zurück an den Absender. Die 44 Stoffballen haben eine weite Reise hinter sich: von Europa nach Afrika und wieder zurück. In Afrika will sie eigentlich keiner haben. Die ausrangierten Vorhänge, T-Shirts oder Bettlaken, die von Weitem so freundlich und bunt aussehen, landen in vielen afrikanischen Ländern direkt auf dem Müll. Njoki Ngumi, Mitglied des Nest Collective, engagiert sich dafür, dass Schluss ist mit dem Entsorgen von Wohlstandsschrott in afrikanischen Ländern. So seien bis zu 40 Prozent der Stoffballen völlig unbrauchbar, sagt sie im DW-Interview.

Ihr Einkauf sei eine Art "Glücksspiel" für die Händler. "Die Deponien wachsen und wachsen. Es gibt eine Müllhalde, die schon im Jahr 2000 für voll erklärt wurde. Die Leute benutzen sie immer noch, weil sie nicht wissen, wohin damit." The Nest Collective nutzt nun ihre Installation, zu der auch ein Film gehört, um auf der documenta fifteen ein größeres politisches Engagement, aber auch einen zivilen Ungehorsam gegen diese Exporte von europäischem, nicht biologisch abbaubarem Textil- und Elektroabfall zu fordern. "Die Einzigen, die mit Erfolg protestieren können, diese einseitigen Geschäfte einzustellen, sind die europäischen Bürger."

Fokus auf den globalen Süden auf der documenta

Der globale Norden hat gerne seine eigene Perspektive auf die Weltgeschichte. Dass diese Sicht einseitig ist, zeigt sich an vielen Stellen der documenta fifteen, die von dem indonesischen Kollektiv ruangrupa geleitet wird. Ressourcen schonen und teilen ist das Prinzip des Reisspeichers Lumbung, der Überflüssiges gerecht weitergibt. "Lumbung" steht als großes Leitmotiv über der documenta fifteen, die 100 Tage dauert, aber noch lange darüber hinaus nachwirken soll. Gemeinschaftliches Miteinander ist auch die Basis des Filmstudios Wakaliga Uganda, benannt nach dem gleichnamigen Stadtviertel in Kampala.

Isaac Godfrey dreht dort Action-Comedy-Filme auf No-Budget-Ebene. Jeder darf mitmachen. "Eigentlich sind wir eine Familie von Talenten. Ich bin sehr gut darin, Begabungen zu erkennen. Manchmal sind sie versteckt. Aber es ist wichtig, sie zu finden", sagt Isaac Godfrey im DW-Interview. So wird aus dem Automechaniker ein Requisiteur oder aus dem Friseur ein Schauspieler. Wie gut diese Kooperation ohne Bildungs- und Klassenunterschiede gelingt, zeigt sich in der documenta-Halle. Vorbei an handgemalten Papp-Filmplakaten von Produktionen seit 2005 - solange gibt es Wakaliga Uganda - geht es in einen Kinoraum, in dem Ramon Film Productions, wie Isaac Nabwanas Studio auch heißt, ihren neuesten Streifen "Football Kommando" zeigen. In einer schnell geschnittenen Mischung aus Action-Film und Karate-Comedy folgt man Verfolgungsjagden in Hinterhöfen, in denen eine Organmafia ihr Unwesen treibt.

Neben Menschenhandel handelt "Football Kommando" auch von einem deutschen Fußballspieler, der sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Sohn macht. Isaac Godfrey, der Lehrer im Hauptberuf ist, sieht eine große Verantwortung darin, sich um den Nachwuchs in Kampala zu kümmern. "Ich versuche, die Kinder und Jugendlichen zu zukünftigen Filmemachern auszubilden." Auch während der documenta lädt Godfrey alle Interessierten zu Filmworkshops ein, die jeweils eine Woche dauern.

Lumbung versus Kapitalismus und Ellbogenmentalität

Flache und antihierarchische Kooperationsmodelle sichtbar zu machen, ist ein Anliegen der gesamten documenta fifteen. Welche und ob überhaupt Kunst dabei herauskommt, spielt eher eine untergeordnete Rolle. Der Geist des Lumbung ist wichtiger. Er weht auch durch das Wajukuu Art Project. Das zwölfköpfige Kollektiv aus Nairobi hat sich mit seiner Wellblechkonstruktion am Eingang der documenta-Halle verewigt. "Es ist der Ort selbst, der Kunst ist. Die Installation, das Haus, wir als Menschen sind Kunst. Was auch immer wir mitbringen, es ist alles Kunst. Wir können das Zuhause nicht von der Kunst trennen. Es ist also alles in einer Sache verwoben: Es ist unser Zuhause und es ist auch unsere Kunst. Das ist es, was wir hier in Kassel ausstellen", sagt Victor Chege Gatugi, Mitglied von Wajukuu Art Project, das in den kommenden Wochen auch künstlerische Workshops mit Kindern durchführen wird.

Die Frage nach der Relevanz westlicher Deutungshoheit über die Kunst ist allgegenwärtig. Auch für Patrick Mudekereza vom Centre d'Art Waza aus Lumbumbashi im Kongo geht es darum, wer künstlerischen Objekten überhaupt Bedeutung verlieht. Als Teil des Netzwerks Another Roadmap Africa Cluster, das 22 Städte des afrikanischen Kontinents zwischen Südafrika und Ruanda umfasst, versucht er eine neue Plattform für kuratorisches und künstlerisches Wissen zu entwickeln. Und stellt dabei sogar das Museum und das Ausstellen mit allem, was dazu gehört, in Frage.

Wer hat die Deutungshoheit über die Kunst?

"Es ist einfach so, dass ich aus einem Kontext komme, in dem es keine lokalen Kunstmärkte gibt", so Mudekereza. "Wenn man zum Beispiel Gemälde malt, wird man keinen Sammler finden, der sie in seine Sammlung aufnimmt. Man muss einen Dialog mit seinem Nachbarn darüber führen und bekommt kein Geld dafür." Durch die Kommerzialisierung der Kunst in Europa sei die Kunst sehr weit weg, findet er. "Sie ist nicht mehr Teil einer Erfahrung, denn sie ist teuer, sie hat einen Wert. Sie muss bewahrt werden. Man darf sie nicht anfassen und kann sie nicht von innen heraus genießen. Aber das ist sehr wichtig." Auf der documenta fifteen will Another Roadmap Africa Cluster gemeinsam über das Ausstellen der kolonialen Vergangenheit nachdenken und die Kontrolle über die Geschichte zurückgewinnen.

Die afrikanischen Kollektive waren noch nie so zahlreich vertreten, wie 2022 auf der documenta fifteen. Sie kommen mit Humor, Energie und politischen Forderungen nach Kassel. Es geht nicht um Einzelkämpfertum, um Individualismus, um den kommerziellen Wert des Kunstwerks. Das alles scheint weit weg. Wer sich auf die Sinnsuche einlässt und nachdenken will, wie und unter welchen Bedingungen Kunst entsteht, nimmt viel mit von einem Besuch in Kassel. Die documenta fifteen, sie ist lehrreich, aber kein belehrenden Ereignis.

 

Autorin Sabine Oelze

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