Queer in Jamaika: Performance-Künstlerin Simone Harris

23 Aug

Simone Harris ist aus Jamaika angereist, um im Berliner "Haus der Kulturen der Welt" bei der queeren Veranstaltungsreihe "Desire Lines" eine Performance zu geben. 

 

Das opulente Outfit, das sie später für ihren Auftritt tragen wird, ist noch in einem Trolley verstaut, als sie sich mit uns am Veranstaltungsort zum Interview trifft. Sie trägt eine Cappy mit der Aufschrift "Lady Blake" - ihrem Alter Ego für die Performance - und lächelt viel. 

Man merkt gleich: Harris ist eine optimistische Frau, die mit Zuversicht in die Zukunft blickt. Doch die Veranstaltung, auf der sie auftritt, befasst sich mit einem ernsten Thema: Queersein in der Karibik. In elf karibischen Ländern existieren Gesetze, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen. Dazu gehört auch Jamaika - ihr Heimatland. Die entsprechenden Gesetze sind meist noch Relikte aus der Kolonialzeit.

Diskriminierung, psychische und physische Gewalt

Neben der rechtlichen Diskriminierung sind queere Menschen in der Karibik verstärkt psychischer und physischer Gewalt, Missbrauch und Unterdrückung ausgesetzt. Im DW-Interview erzählt Harris darüber, wie es ist, in Jamaika queer zu sein, welchen Einfluss die Kirche auf rechtliche Reformversuche hat und wie (Post-)Kolonialismus und Homophobie in ihrem Heimatland Hand in Hand gehen. Harris lebt in Kingston, der Hauptstadt Jamaikas. Dort arbeitet sie auch als Projektmanagerin für die Regierung. Sie ist stolz auf ihre Identität als queere jamaikanische Künstlerin und Aktivistin.


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Gleich zu beginn des Interviews brüstet sie sich: "Ich bin ein Maroon-Kind der siebten Generation und eine Nachfahrin der Nanny of the Maroons." Die Freiheitskämpferin "Nanny of the Maroons" ist die einzige weibliche Nationalheldin Jamaikas. Anfang des 18. Jahrhundert führte die ehemalige Sklavin den Ersten Maroon-Krieg an - eine blutige Auseinandersetzung zwischen den britischen Kolonisatoren Jamaikas und den ehemaligen Plantagen-Sklaven, den sogenannten jamaikanischen Maroons.

Queer and proud: Ahnengeschichte als Inspiration

"Die Maroons waren die ersten Rebellen, die ersten Freiheitskämpfer", führt Harris aus. Das erfülle sie mit Stolz und habe einen großen Einfluss auf ihre Arbeit als queere Künstlerin und Aktivistin.

"Die Maroons waren versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner, die sich auf den Inseln auch mit den Ureinwohnern vermischt haben. Jamaika ist ein kolonisierter Raum. Unser nationales Motto lautet daher 'Aus Vielen ein Volk'." Von dieser Abstammungsgeschichte der Diversität lässt sich Harris in ihrer queeren Performance-Kunst inspirieren. "In Jamaika haben sich viele Kulturen und Völker vermischt." 

Ihre Abstammungsgeschichte gibt der offen lesbisch lebenden Künstlerin Kraft: "Ich fühle mich als ein Teil des Felsens, ein tieferer Teil. Kein Stigma rund um meine sexuelle Identität kann dieses Identifikations-Gefühl aushebeln." 

"Queerribbean" - Queersein in Jamaika

Queere Menschen in Jamaika werden meist ausgegrenzt. Man kann entweder nur queer oder Jamaikaner sein. Queere Jamaikanerinnen und Jamaikaner werden als "anders" wahrgenommen. "Als 'Andere' zu existieren, bedeutet in den Augen der Gesellschaft auch, dass man nicht zur Entwicklung dieser Nation beigetragen hat. Man wird ignoriert, weder positiv noch negativ wahrgenommen. Man existiert einfach nicht", gibt Harris zu bedenken. Dieses Thema der kulturellen Identifikation versucht sie in ihren Arbeiten zu erforschen - "durch eine queere Linse".

So spielt sie in ihrer Performance im Haus der Kulturen der Welt eine Königinnentochter namens Lady Blake Ophelia Stratum, deren Reich durch "Neuankömmlinge" zerstört wird. Eine klare Referenz zur kulturzerstörenden Kraft des Kolonialismus. Im Versuch, Traditionen und Erinnerungen des Reichs zu retten, wird Lady Blake vom Königshaus auf eine metaphysische Reise durch Raum und Zeit geschickt - weit weg vom Feind und quer über die Meere. Sie landet im postkolonialen Jamaika von heute. Statt dort königlich behandelt zu werden, ist sie nun eine "Andere" und bricht mit der Mission auf, ihren Stamm zu finden - um an die Wahrheiten der Ahninnen und Ahnen zu erinnern.

Kolonialismus und Kirche als Hauptursache für Queerfeindlichkeit

Mit der Performance greift sie nicht nur die Ausgrenzung von queeren Menschen in Jamaika auf, sondern thematisiert auch den Einfluss des Kolonialismus auf die heutige Situation von queeren Menschen dort. Obwohl viele karibische Inselstaaten heute unabhängig sind, beeinflusst der holländische, englische, französische und spanische Kolonialismus der letzten Jahrhunderte bis heute die karibischen Kulturen. Jamaika selbst löste sich 1962 von der britischen Kolonialherrschaft.

"Wir haben immer noch Gesetze aus dem 19. Jahrhundert in unseren Gesetzesbüchern. Das Gesetz über Unzucht ist fast 200 Jahre alt", erläutert Harris. Postkolonialismus wirke sich noch stark auf die heutige Gesellschaft aus. Das werfe Fragen darüber auf, wer eigentlich die Macht hat. "Sind wir als Nation wirklich unabhängig? Und wie sieht Unabhängigkeit überhaupt aus? Bob Marley sang von Sklaverei im Geiste (engl.: mental slavery). Wir haben uns zwar von den Kolonialmächten befreit, aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns", gibt Harris zu bedenken.

Dass die Gesetze bis heute nicht geändert werden, liegt auch an der stark religiös geprägten Gesellschaft, meint Harris. "Die Kirche ist extrem mächtig in Jamaika. Die meisten Jamaikaner und Jamaikanerinnen sind in der Kirche aufgewachsen."

Sie durchdringt die jamaikanische Gesellschaft und hat einen immensen politischen Einfluss. "Politische Entscheidungsträger können sie nicht ignorieren", meint Harris. "Weil sie den Wünschen ihrer Wählerschaft nachkommen müssen. Und ihre Wählerschaft ist indoktriniert durch die Kirche. Deshalb haben viele Abgeordnete das Gefühl, keinen Schritt in Richtung Fortschritt machen zu können - weil sie sonst ihren Sitz im Parlament verlieren könnten." 

Seit 2015: Mehr Aktivismus in Jamaika

Simone Harris ist seit 2015 queere Aktivistin und setzt sich mit Kunst-Projekten für die Rechte und gegen Diskriminierung von queeren Menschen ein. Sie war das Gesicht der ersten jamaikanischen Pride-Parade in Kingston 2015. Damals habe sie das Gefühl bekommen, es bewege sich etwas in ihrem Land. Die jamaikanische Gesellschaft öffne sich. Es gab sogar staatliche Unterstützung für die Pride. "Der Bürgermeister und der Minister für nationale Sicherheit unterstützten uns damals," berichtet die Künstlerin. 

Diese Entwicklung stimmt sie optimistisch: "Ich sehe eine junge Generation, die die Sache frontal angeht. Ein Nein als Antwort akzeptieren sie nicht. Viele von ihnen scheren sich nicht einmal um Etiketten. Für sie geht es um mehr als nur die Existenz als queere Menschen. Sie wollen sich entfalten. Sie wollen in ihrem Land vorankommen, sie wollen aufstehen, sich engagieren. Und zum ersten Mal mit einer vereinten Stimme rufen: 'Hört zu, wir sind hier und wir werden ein Mitspracherecht haben, wie wir hier leben und wie wir hier existieren!'"

 

Autor Kevin Tschierse    

Permalink - https://p.dw.com/p/4Ffc2


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