Ein kleines Plastikei, versehen mit einem Display, drei Knöpfen und einer Kette, versetzte in den 1990ern Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt in Verzückung.
Das digitale Tierchen schien tatsächlich ein echtes Lebewesen zu sein, denn es forderte seine Aufmerksamkeit quasi rund um die Uhr - sonst verschlechterten sich sein Zustand und sein Charakter in Windeseile. Doch erklären wir das Phänomen von Anfang an. Der japanische Spielehersteller Bandai brachte das Tamagotchi 1996 heraus und benannte es nach dem japanischen "tamago" (Ei) und einer Anlehnung an das englische "watch" (Uhr).
Die Idee zu dem digitalen Ei kam von einer Bandai-Mitarbeiterin, die beobachtet hatte, dass viele Kinder in Japan sich ein Haustier wünschten, doch in der Enge und Hektik des japanischen Alltags war das kaum zu realisieren. Die Idee zum digitalen Haustier war so genial wie einfach - und gleichzeitig teuflisch. Das kleine pixelige Küken musste versorgt werden - von der Geburt bis zum Tod.
Uff. Es schläft!
Die Geburt fand mit dem Stellen der Uhr statt. Auf dem Display erschien ein kleines Ei, aus dem ein digitales Tierchen schlüpfte. Und das brauchte Zuwendung wie ein menschliches Baby: essen, spielen, Windeln wechseln, schlafen. Dies wurde durch Piepsen eingefordert. Die Kunst bei der Aufzucht eines Tamagotchi bestand darin, es so zu "erziehen", dass es sich an Zeiten hielt und zufrieden gedieh. Doch meistens hatte die kleine Nervensäge ihren eigenen Kopf - und wer es nicht gut behandelte, zog sich ein kleines digitales Monster heran, das in so manchem Kinderzimmer die Nacht zum Tage machte, bis es dann vorzeitig verendete und mit Engelsflügen gen Himmel glitt.
Digitale Apokalypse
In den höchstens 20 Tagen Lebensdauer, die ein Tamagotchi damals hatte, konnte es so einigen Schaden anrichten. Das Magazin "Spiegel" sah damals bereits die digitale Apokalypse auf uns zukommen: "Irritierte Lehrer, hilflose Eltern, besorgte Psychologen: Das japanische Cyber-Küken Tamagotchi fesselt weltweit Millionen Kinder. Dabei ist der heimtückisch-hilfsbedürftige Bewohner im Plastik-Ei erst die Vorhut eines digitalen Großangriffs auf die Seele junger Menschen."
Natürlich wurden die kleinen Eier schnell aus Klassenzimmern verbannt; ein entnervter Lehrer schilderte im WDR-Fernsehen: "Kolleginnen und Kollegen sind zu mir gekommen, haben mir die Eier auf den Tisch gelegt und gesagt: So, die stören so sehr den Unterricht, wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen." Andere Lehrer nahmen das Thema im Unterricht mit auf - bis hin zur Frage im Religionsunterricht, wie man Freundschaft, Liebe, Tod und Trauer auf das Leben mit einem Tamagotchi übertragen kann.
Babysitter für Tamagotchis
Konnten die Kinder in der Schule das Tierchen nicht versorgen, mussten Eltern als Babysitter herhalten. Schließlich wollte niemand das riskieren, was leider allzu oft geschah: Die Lehrkraft nahm dem Kind das Tamagotchi weg, bei der Rückgabe am Ende des Unterrichts war es tot.
Manche Menschen verdienten sich sogar ein paar D-Mark (die deutsche Währung vor dem Euro, Anm. d. Red.) dazu, indem sie mehrere Tamagotchis in Pflege nahmen. Und tatsächlich begaben sich auch reife Erwachsene freiwillig unter die Fuchtel des kleinen Pixelkükens, fütterten fleißig, räumten kleine Häufchen weg, gaben Spritzen gegen Krankheiten.
Tamagotchis werden immer noch verkauft
In Japan machte das Tamagotchi schon 1996 Furore und war dort längst nicht so argwöhnisch beäugt worden wie in Deutschland - in Japan scheinen viele Menschen einfach technik- und fortschrittbegeisterter zu sein. Am 8. April 1997 kam das Tamagotchi nach Europa und wurde erstmals bei der Spielwarenkette "Toys'R'us" in London verkauft. Am 12. Mai trat es seinen Siegeszug in Deutschland an. Für 30 D-Mark (ca. 15 Euro) wurde es in Deutschland rasend schnell mehr als zwei Millionen Mal verkauft.
Und mit dem Erfolg gingen Kuriositäten einher: Selbsthilfegruppen für verzweifelte Eltern, Cyber-Friedhöfe für die verstorbenen Lieblinge - bis hin zur Sonderausgabe fürs Oktoberfest - das "Wiesn-Goscherl". Die damalige Viva-Moderatorin Heike Makatsch (heute eine renommierte Schauspielerin) bekannte öffentlich, dass allein die Vorstellung des nahenden Todes ihres "Gotchis" sie "völlig fertig" mache.
Der Hype endete so schnell wie er kam - Ende 1997 war Schluss mit dem Gepiepse in der Hosentasche. Das Tamagotchi geriet in Vergessenheit. Im Jahr 2004 aber kam Bandai mit einer neuen Version heraus. Einer weniger egozentrischen, die auch mal etwas geben kann: Liebe - zu anderen Tamagotchis. Es war sogar möglich, eine Familie zu gründen. Über Infrarot-Schnittstellen ließen sich Artgenossen ausfindig machen, sie konnten heiraten und Kinder bekommen.
Damit nicht genug. Immer weitere Versionen mit immer mehr Spielmöglichkeiten und Charakteren kamen heraus. Ab 2012 war es möglich, das Tamagotchi mit einem Handy zu verbinden. Und 2017 schließlich gab es eine besondere Edition zum 20. Geburtstag.
Obwohl weitere Versionen heute überwiegend Nerds interessieren dürften, ist das Tamagotchi Kult. Ein unvergessenes Spielzeug der 1990er-Jahre. Es füllte zeitlich genau die Lücke zwischen Gameboy und Smartphone und traf auf eine Generation, die noch das rein analoge Leben kannte und vom Digitalzeitalter, das gerade erst begonnen hatte, noch keine konkreten Vorstellungen hatte.
Autorin Silke Wünsch
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