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SCHWARZ - A CRACK OF LIGHT TOUR 2023
Im Rückblick gilt es als Ironie des Schicksals, dass der bis dahin größte Mainstream-
Moment des Vollblutmusikers Roland Meyer de Voltaires nicht unmittelbar durch seine
Musik eintrat: In der 2020 auf 3sat und Netflix ausgestrahlten, vielgelobten
Langzeitdoku „Wie ein Fremder“ erzählt Regisseur Aljoscha Pause („Being
Mario Götze“, „Second Move Kills“) über fünf Folgen hinweg mit dem Aufstieg,
Fall und Aufrappeln des Sängers, Songschreibers und Multiinstrumentalisten
eine Geschichte, die nicht nur viel über ein prekäres Künstlerleben preisgibt, sondern
auch Mechanismen, Versprechen und Irrwege in der Popbranche aufzeigt – und die
sein nun, vier Jahre nach dem Debüt „White Room“ erscheinendes, neues
Soloalbum „Red Pill“ unter dem Namen SCHWARZ erst möglich machen würde. Ein
Glücksfall.
Kunst zwischen den Stühlen
Roland Meyer de Voltaire wuchs als Kind deutsch-bolivianischer Eltern in Bonn und Moskau auf.
Mitte der Nullerjahre gründete er die Band Voltaire.
Sie spielte Rockmusik, wie es sie in Deutschland so zuvor nicht gab: Inspiriert
von Anspruch und Sound britischer Größen wie Radiohead und Muse schuf
Voltaire Postrock mit deutschen Texten, der neben den Arctic
Monkeys als „schönste Aussicht auf das Jahr 2006“ betitelt wurde. Ein
Majorlabel hegte große Pläne mit Voltaire. Bloß: Der Durchbruch fand nie statt.
Nach einer EP und zwei Platten war die Luft raus. Meyer de Voltaire, laut Selbstbeschreibung ein
besessener Kreativer, stand zunehmend vor finanziellen und mentalen Schwierigkeiten. Erst als
er sich entschied, seinen Wohnsitz aufzugeben, kehrte Hoffnung und neue Inspiration in sein
stets von Musik bestimmtes Leben zurück. Neue Songs, neuer Künstlername, neuer Versuch: Mit
SCHWARZ erfand Meyer de Voltaire ein neues und grandios kontemporäres Outlet seiner
musikalischen Vielfältigkeit und gab - auch dank „Wie ein Fremder“ - plötzlich mehr Interviews als
je zuvor. Außerdem arbeitete er unter anderem mit Megaloh, Enno Bunger und Schiller, mit dem
er auch auf Tour ging, und komponierte zahlreiche Filmmusiken, darunter jüngst, gemeinsam mit
dem Produzenten Mark Pinhasov, das Titellied für die in über 50 Ländern via HBOmax
ausgestrahlte deutsche Serie „Zwei Seiten des Abgrunds“.
Schon SCHWARZ‘ in Lyrics, Sound und Video tief berührende, hoch optimistische,
2017 erschienene Debütsingle „Home“ umarmte die Gegenwart und bewies sogleich:
Rockmusik war gestern. „Home“ klang wie die nächste Club-Hitsingle von Moderat
und gleichzeitig ganz nach Meyer de Voltaire. Zahlreiche Remixe folgten. Dass er mit
SCHWARZ erst lernen musste, elektronische Musik zu produzieren, hörte man
schon seinem ersten Album „White Room“ (2019) nicht an. Mit Jugendhelden wie
Goldie, The Prodigy und Justice im Hinterkopf, entdeckte er auf dem Weg dahin
neben Moderat unter anderem auch Apparat, Jon Hopkins und Woodkid: „Klar hatte
ich auch Referenzen für meine Band“, sagte er mal in einem Interview mit dem
„Musikexpress“, „niemand erschafft etwas in einen leeren Raum hinein. Aber ich
wollte meiner Musik immer meinen eigenen Stempel aufdrücken. Alles andere
ergibt keinen Sinn für mich, weil es das schon gibt.“
Von Radiohead zur Reduktion
Dank dem erneut in Eigenregie geschriebenen, arrangierten,
aufgenommenen und produzierten „Red Pill“ – mitfinanziert durch eine im
Coronajahr 2021 gemeisterte Crowdfunding-Kampagne – erleben wir nun die
nächste Ironie des Schicksals: Wenngleich zwar nicht die Rockmusik als solche, so
hat der heute 44-jährige, in Berlin lebende Voltaire immerhin deren maßgebliches
Instrument wieder entdeckt: Insbesondere durch den musikalischen Rückblick, den er durch
„Wie ein Fremder“ erlebte, hat er in den vergangenen Jahren
zur Gitarre zurückgefunden, die zwischen sphärischen Sounds zum tragenden
Element wird: „Ausgangspunkt für die Ästhetik von ‚Red Pill‘ waren Auftritte,
die ich allein mit Gitarre, Beats und Konzentration auf die Stimme spielte“, sagt
er. Red Pill empfindet er deshalb als unprätentiöser und nahbarer. Es
brauchte kein großes Orchester, keine EDM-Drops, lediglich mehr Hallräume. Neben
genannten Namen ließ sich Meyer de Voltaire übrigens maßgeblich von Billie Eilish
und The xx inspirieren, wie er unumwunden zugibt: „Bei Eilish und ihrer
Zurückgenommenheit hast du das Gefühl, sie flüstert dir etwas ins Ohr. Das wollte
ich auch, ohne es zu übertreiben. Ich dachte: Krass, das kann man ja auch machen,
und es passt in die Linie von The xx. Bei denen dachte ich anfangs ebenfalls, dass da die Hälfte
fehlt.
Mit Nähe und Distanz
Thematisch beschäftigt Meyer de Voltaire vor allen Dingen, wie sich unser
Miteinander durch die indirekte Direktheit der sozialen Netzwerke verändert. Wie wir
gerade durch die Tatsache, dass wir uns nicht in die Augen sehen müssen, in
nie zuvor dagewesener Offenheit öffentlich Dinge teilen und kommentieren.
Daraus, findet er, resultiere die Angebotsflut von einfachen Lösungen für
komplexe Probleme, die uns beim Blick in die Timelines ereilen. Davon singt er
in der ersten Single „A Crack Of Light“, deren Video als Auftakt einer visuellen
Trilogie ein junges Paar in Los Angeles porträtiert, das zwischen Nähe und Distanz
mäandert. Im Banger „Peek A Boo“ geht es um die Leerstellen, die unser Kopf beim
Betrachten von Online-Dating-Profilen füllt. Der dazugehörige Clip (als Doppelsingle
mit „Stranger Smiling“) begleitet die Protagonist*innen weiter, Cameoauftritt des
Künstlers als Casting-Agent inklusive. „David Lynch“ wiederum umschreibt den
hoffnungslosen Versuch zu Beginn der Covid-Pandemie zu begreifen, was hier
gerade passiert, während man sich mit immer widersprüchlicheren
Betrachtungsweisen konfrontiert sieht. „A Word“ verhandelt den Streit um die Macht
des Wortes, der Titelsong „Red Pill“ die zum Verzweifeln feste Überzeugung, die
absolute Wahrheit gefunden zu haben.
Wer Beats und Charts-Appeal der zehn brandneuen Tracks hört, ahnt: In einer
gerechten Welt müsste dieser Mann bald für Ed Sheeran, Coldplay UND Depeche
Mode produzieren. Aber wir freuen uns, dass wir Roland Meyer de Voltaire mit
seiner musikalischen Genialität, Vision und Soundtrack-Ästhetik endlich
wiederhaben. Dieses Mal als Vertrauten, nicht als Fremden.
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